„Digitalisierung ist kein Tool!“

Ricarda Raths

Ricarda Raths war lange Direktorin für Kommunikation und Fundraising beim WWF. Sie ist auch Referentin an der Fundraising-Akademie. Mit Matthias Daberstiel sprach sie im vertrauten Du über Zielgruppen im Fundraising, die richtige Strategie, KI als Hilfsmittel für NGOs und agiles Arbeiten als Geheimwaffe.

Warum tun sich NGOs so schwer, neue Zielgruppen zu erreichen? Alles spricht von jüngeren Zielgruppen, aber in Wahrheit kommunizieren wir im Fundraising immer noch in Richtung 65plus.

Und genau da liegt schon das Hauptproblem. Aktuell strukturieren wir nicht nach Zielgruppen, sondern nach Altersgruppen. Das ist sehr eindimensional. Denn eine Zielgruppe hat nicht nur soziodemografische Eigenschaften. Sie haben Berufe, Lebensrealitäten, Kommunikationsverhalten und bedürfnisorientierte Mediennutzung. Und sie haben Werte, und all dies sollte die Basis für eine Zielgruppeneinschätzung sein. Denn wenn ich einen Doktor in Physik habe und 65 Jahre alt bin, kann ich ganz genauso AfD-Sympathisant sein. Und Studien zeigen, dass diese Menschen nicht oder wenig für soziale, humanitäre oder Umweltschutzthemen spenden. Die Vereinigung auf das Alter ist fatal.

Woran hapert es?

Wir müssen viel strategischer werden und beginnen, die Menschen auch nach sozialen und psychologischen Key Performance Indicators (KPI) einzuschätzen. Ein Beispiel: Ich arbeite für die Fundraising Akademie gerade im Großspenden-Kurs mit. Die Frage, was ist ein Middle-Donor und ab wann ist jemand ein Großspender wird auch dort sehr oft gestellt. Aber ist die Höhe der Spende wirklich der richtige KPI? Müssen wir nicht mehr über diese Zielgruppe herausfinden, die uns gibt, um ihre Bedürfnisse besser zu kennen und sie dann noch intensiver an die Organisation zu binden? Wenn ich nur vom Spendenbetrag ausgehe, liege ich oft falsch oder verpasse Potenziale, weil ich die Werte von Menschen unberücksichtigt lasse.

Wir müssen also mehr differenzieren?

Ja, und wir müssen strategisch vorgehen. Denn wenn ich die Werte weiß, muss ich als nächstes über Kommunikationskanäle und Mediennutzung nachdenken. Auch die müssen sich an den Bedürfnissen der Zielgruppe und nicht der Organisation orientieren. Alle Spender in einem Postmailing – das ist fahrlässig. Gerade im Großspendenfundraising ist Recherche sehr wichtig. Wir müssen sehr viel mehr Zeit auf die Recherche verwenden. Erst dann folgt die genaue Ansprache. Es gibt diesen Leitspruch von zehn Stunden für die Großspendenansprache. Davon mache ich neun Stunden Recherche, und eine Stunde rede ich mit dem Spender oder der Spenderin. Auch können uns neue Predictive Analytics Modelle und KI hier etwas Arbeit abnehmen, aber auch diese Modelle brauchen als Basis viele Daten und Wissen über die Werte und Bedürfnisse unsere Zielgruppe.

Was müssen wir tun, um diese Datenbasis zu legen?

Wir müssen mehr mit den Leuten reden und fragen, fragen, fragen – nicht nur nach Geld, sondern nach Bedürfnissen und Verhalten. Das Tolle ist: Die Leute sagen uns alles. Aber wir müssen fragen! Ich habe damals beim WWF ein Panel mit Prof. Tom Neukirchen von fundgiver aufgebaut, an dem circa 3.000 Personen teilgenommen haben, solche, die gespendet haben, aber auch Interessierte am Thema. Wir haben vielfältige Fragen gestellt. Und wir bekamen freigiebig Antworten. Die Leute wollen sich ja einbringen, helfen und ein Teil der NGO sein.

Und wie dann weiter?

Wenn wir das Fundraising professionalisieren wollen, müssen wir uns darüber Gedanken machen, was fahren wir eigentlich für einen Fundraising-Ansatz? Das wäre mein erster Punkt. Wollen wir wachsen, Defizite vermeiden oder an einer Spenderzentrierung arbeiten? Zweitens: Ist diese Strategie kohärent mit der Gesamtstrategie? Und welche Fundraising-Strategie setzen wir dann nachfolgend um?

Wenn eine NGO wachsen will, bedeutet das Wachstum eben auf allen Ebenen und nicht nur im Fundraising, sondern auch in den Projekten. Sie muss wahrscheinlich stark digitalisieren, um die nötigen Werbebudgets zu stemmen und richtig einzusetzen. Wenn ich als NGO aber auf Involvement als Strategie setze und sage, ich setze Freiwilligenprogramme um, oder entwickle Donor-Clubs oder setze auf Peer-to-Peer-Fundraising, dann brauche ich dafür auch ganz andere Strukturen und Leute. Und das ist das, was ich in den Akademiekursen weitergebe. Macht euch da vorher ernsthaft Gedanken! Überlegt euch die richtige Strategie und bleibt dabei! Ich kann nicht nach ein paar Monaten um die Ecke kommen und sagen, wir haben eine Stabilitätsstrategie, aber ich erwarte von dir, dass du draußen eine Reichweite von Millionen erzeugst. Das passt nicht zusammen und erzeugt Defokussierungen und oftmals Frust in den Teams.

Wo fängt man an?

Eine gute Strategie beginnt immer mit der Analyse. Das heißt, den Blick nach innen, nach außen, nach oben und unten zu werfen. Dabei beantworten wir die Fragen: Wer passt zu uns und was haben die für Werte? Wie können wir die gezielt ansprechen? Wie sieht mein Umfeld politisch oder mit anderen NGOs aus? Welche Historie habe ich auch in der Datenbank und welche Historie hat meine NGO? Muss ich da eventuell noch irgendwelche alten Kamellen mitdiskutieren? Muss ich also intern noch was klären? Und dann habe ich eine Strategie, und erst dann stelle ich die Frage, welche Struktur und was ich für Leute brauche.

Muss also Personal getauscht werden?

Nicht unbedingt. Wenn die Bereitschaft besteht, die NGO, alle Mitwirkenden und sich selbst weiterzuentwickeln, wird die Strategie tragen. Wenn ich beispielsweise Leute habe, die noch nicht digital denken, kann ich zwar laut nach Digitalisierung schreien, aber es wird sich nichts bewegen.

Warum ist gerade das digitale Thema so ein Knackpunkt?

Ich glaube, hier gab es schon immer ein Missverständnis. Digitalisierung ist eben nicht, eine E-Mail zu schreiben, sondern Digitalisierung heißt wirklich, das ganze Haus zu digitalisieren, und das bedeutet echte Strukturveränderung in den NGOs.

Wird Digitalisierung also zu sehr in Tools gedacht?

Ja, genau. Das ist auch mein Eindruck. Gerade mit dem Thema KI. Zu wenige Leute stellen die Frage: Was verändert KI für unsere Strategie? Ich sehe aktuell zwei Themen, die Organisationen strategisch im Fundraising weiterbringen. Predictive Analytics für die Identifizierung und genauere Ansprache unserer Spenderinnen und Spender sowie den Spendenservice.

Warum der Spendenservice?

Da gibt es international schon sehr, sehr schöne Beispiele. Dort wird bereits die gesamte Spenderbetreuung ausgelagert. Agenturen betreuen dort diesen Bereich komplett, und die Organisation kümmert sich nur noch um die Projektarbeit. Die Finanzierung läuft extern.

Aber verliert man da nicht ein bisschen die Bodenhaftung zu den Menschen, die mit ihren Spenden die Organisation zum Schluss tragen?

Das muss man sicher diskutieren. Aber KI schafft etwas, was wir mit Menschen bisher so nicht konnten. Eine an den Werten der Organisation ausgerichtete konsistente Kommunikation. Da fällt es gar nicht auf, wenn das nicht direkt von der Organisation kommt. Spenderkommunikation kann auf Sprachebene von der KI so gut kommuniziert werden, dass es nur noch darum geht, wie der Prompt aussieht und womit die KI gefüttert wird.

Du denkst also, wenn man das mit KI kombiniert, wird die Organisation vielleicht sogar nahbarer als jetzt?

Bisher war es ja so, dass du erst durch den Zugang, den dir ein Projektmitarbeiter gewährte, so nah dran sein konntest und so zu einem Teil der Organisation werden konntest. Ich glaube, da kann KI einen großen Mehrwert bieten, wenn man ihr die richtigen Materialien zur Verfügung stellt. Wir haben in den NGOs wahnsinnig viel Material, was bereits da ist, Bild-, Text- und Tonmaterial. Doch aktuell überlegen wir sehr lange, wo das eigentlich ist und was das Richtige wäre. Eine KI kann das schneller systematisieren, auswerten und Vorschläge machen und das dann komplett orientiert an den Werten der Organisation und der Zielgruppe zur Verfügung stellen.

Woran würde sich die KI dann orientieren?

An der Marke mit ihrem Markenhandbuch zum Beispiel. Eine stringente Kommunikation würde vielen NGOs wirklich guttun, gerade auch in Veränderungsprozessen. Denn die KI nimmt auch bei neuen Themen keine Strategieanpassung vor. Da muss sich niemand was ausdenken, was dann eigentlich gar nicht passt. Grundlage bleiben immer die Mission und die Marke, und so sind neue Projekte schneller und im Sinn der NGO kommuniziert.

Hast Du ein Beispiel für den Spendenservice?

Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren sehen werden, wie Spenderinnen und Spender zielgerichtet mit dem für sie zugeschnittenen Material angesprochen werden und damit die Spenderbindung gestärkt wird. Denn wenn wir uns fragen, warum Spendenbriefe und E-Mails nicht geöffnet werden, dann gehts oft um fehlende Relevanz. Zukünftig ist eine individuelle Kommunikation mit relevanten Inhalten gefragt. Das schaffst Du aber in der Vielfalt nicht als Mensch. Da braucht es digitale Helfer.

Auch eine Herausforderung für die Weiterbildung an der Stelle?

Definitiv, aber wie gesagt, Digitalisierung ist kein Tool! Wir müssen den angehenden Fundraiserinnen und Fundraisern beibringen, dass sie schnell und langsam denken müssen. Langsam in der Strategieentwicklung, welche digitale Herausforderungen mitdenkt. Und schnell oder besser agil in der Herausforderung, sich Veränderungen zu stellen.

Agilität wird oft als Gegensatz zu Strategie gesehen.

Das ich finde wahnsinnig schade. Ich glaube, dass Agilität die einzige Antwort für die ganzen komplexen Themen ist, die wir haben. Wenn du agiles Arbeiten wirklich umsetzen kannst, ist es eine unglaublich vereinfachende Arbeitsweise.

Aber NGOs neigen dazu, erst mit etwas rauszugehen, das irgendwie so 120-prozentig ist. Ist das also nicht mehr zeitgemäß?

Nein, denn das ist einfach auch nicht mehr zu schaffen. Mehr agiles Arbeiten bedeutet mehr Flexibilität. Beim agilen Arbeiten nach MVPs (Minimum Viable Product) reicht ein 80-prozentiges Produkt, das sich auf dem Feedback von Spenderinnen und Spendern entwickelt. Auch führt agiles Arbeiten in Teams zu mehr Fokussierung. Es macht wenig Sinn, mit Leuten an Themen zu arbeiten, auf die sie keine Lust haben, nur weil es in ihrer Arbeitsbeschreibung steht. Wer Bock hat, dieses Thema zu bearbeiten kann in einem vierteljährlichen Turnus mitarbeiten und sich und das Projekt weiterentwickeln. Für mich ist Agilität die Antwort auf Komplexität.

Wie hilft Strategie dem Team?

Deswegen bin ich ja so ein großer Strategiefan. Weil die Mitarbeitenden sich wahnsinnig einfach tun, wenn die Richtung deutlich ist. Dann wäre ein Fokus da, die Struktur und der Budgeteinsatz klar, und dann könnte man auch echt gut arbeiten. Ich weiß von Vorständen, dass sie sich das wünschen. Ich weiß von Fundraising-Abteilungen, dass sie sich das wünschen. Hier sind sie wie ein Ehepaar im Ikea: Der eine schwärmt vom perfekten Wohnkonzept, der andere weiß, wer den Billy-Regal-Schraubendreher sucht. Erst wenn beide akzeptieren, dass sie im selben Möbelhaus stecken, wird’s gemütlich.

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